Einnischung allochthoner Mauereidechsen Podarcis muralis maculiventris (West) in ein Habitat von Zauneidechsen Lacerta a. agilis bei Nürtingen (Baden-Württemberg, Deutschland)

Einnischung allochthoner Mauereidechsen Podarcis muralis maculiventris (West) in ein Habitat von Zauneidechsen Lacerta a. agilis bei Nürtingen (Baden-Württemberg, Deutschland)

Von GUNTRAM DEICHSEL und GABRIEL WERNER
August 2011

Der jüngere von uns (GW) entdeckte am 28. Februar 2010 an einem landwirtschaftlichen Fahrweg bei Nürtingen (9°37’N, 9°20’E) zu seinem Erstaunen Mauereidechsen, die – nach Kontaktaufnahme über www.herpetofauna.at – WERNER MAYER vom Naturhistorischen Museum Wien aufgrund von Bildern phänotypisch als P. m. maculiventris (westliche bzw. Südalpenlinie) bestimmte. Nürtingen liegt außerhalb des natürlichen Verbreitungsgebietes der Mauereidechse P. muralis ssp. in Deutschland

DEUSCHLE et al. (1994) erwähnen eine Verbreitungskarte von SEPP BAUER aus dem Jahr 1987, in der ein früheres Vorkommen von Mauereidechsen bei Nürtingen eingetragen ist. Die genaue Lokalität ist nicht bekannt. Eine Rückfrage bei Herrn Bauer im Landratsamt Ravensburg ergab, dass er keine Unterlagen mehr zu seiner damaligen Kartierung besitzt.

Nach einer Ausnahmegenehmigung des Regierungspräsidiums Stuttgart als Obere Naturschutzbehörde konnte GD von drei Tieren Mundschleimhautproben abnehmen. ULRICH SCHULTE vom Institut für Biogeografie der Universität Trier bestimmte nach Analyse der mtDNA den Haplotyp. Eine Kette von fünf Informanten führte schließlich zu der Person, die elf Tiere aus Italien vom Gardasee in Nürtingen im Jahre 1991 an der Fundstelle ausgesetzt hatte. Damit ist phänotypisch, haplotypisch und durch einen Zeitzeugen konsistent bestätigt, dass es sich um gebietsfremde Tiere handelt. Die vermutete Verschleppung mit Pflanzenmaterial zu einer nahegelegenen Gärtnerei können wir nach Inspektion des dortigen Geländes und nach einem Interview mit einem früher dort beschäftigten Mitarbeiter ausschließen.

Bei dem Areal handelt es sich um ein südwest-exponiertes Streuobstwiesengelände um 300 m über NN mit vereinzelten Büschen und Gartenhütten, das am unteren Rand von einer Hecke und einer steilen Böschung begrenzt wird. Entlang der Böschung verläuft ein asphaltierter landwirtschaftlicher Fahrweg. Ein ca. 150 m langer Abschnitt der Böschung bildet den Fokus der Mauereidechsenkolonie, die wir auf über 200 adulte Individuen schätzen. Außerhalb des Fokus findet man einzelne Mauereidechsen an steilen Strukturen (Bäume, kleine Einfassungsmauern, Altholz- und Steinaufschüttungen, Hütten) in Entfernungen bis zu 100 m vom Fokus. Zauneidechsen Lacerta a. agilis besiedeln das von Mauereidechsen besetzte Gelände und die weitere Umgebung in weitaus geringerer Dichte. Einzelne Ringelnattern Natrix n. natrix und Blindschleichen Anguis f. fragilis wurden ebenfalls gesichtet.

Seit längerem kursiert die Frage nach den Auswirkungen allochthoner Mauereidechsen auf syntop vorkommende Zauneidechsen, siehe hierzu z. B. MÜNCH (2001). Der Hans-Schiemenz-Fonds der DGHT fördert das Projekt einer Bachelorarbeit von AURELIUS HEYM, der darin diese Frage am „Modellfall Nürtingen“ untersucht. Nach der Datenerfassung im Feld im Juli und August 2011 wird Herr Heym mit statistischen Verfahren u.a. die Faktoren identifizieren, die die Koexistenz beider Arten ermöglicht. Die Arbeit wird von ULRICH SCHULTE betreut und voraussichtlich im Ende 2011 abgeschlossen sein. SCHULTE et al. (2011) stellen das Projekt in der Zeitschrift „elaphe“ der DGHT vor. In der Nürtinger Zeitung vom 3. August 2011 erschien ein Artikel von SYLVIA GIERLICHS <Link> zu Herrn Heyms Arbeit. Gemeinsam mit dem Umweltbeauftragten der Stadt Nürtingen und dem Planungsbüro für Tier- und Landschaftsökologie Dr.Jürgen Deuschle in Köngen unterstützen wir Herrn Heym bei seinen Untersuchungen im Felde. Hier wollen wir anhand von Bildern das gemeinsame Vorkommen von allochthonen Mauer- und Zauneidechsen sowie Blindschleichen dokumentieren.

Abb. 1: Das von ca. 200 Mauereidechsen besiedelte Areal. Durchgezogenes Dreieck: Fokus des Vorkommens. Strichlierte Linien und Kreise/Ellipsen: Einzelbeobachtungen. Zauneidechsen siedeln in- und außerhalb dieses Areals in geringer Dichte. Quelle: www.maps.google.de, eingesehen am 18. August 2011

Die Abbildungen [2] – [15] stammen aus dem Fokus des Mauereidechsenvorkommens, [16] – [27] von außerhalb.

Abb. 2: AURELIUS HEYM erfasst die Beobachtung einer Mauereidechse im Fokus des Vorkommens (landwirtschaftlicher Fahrweg mit Böschung und Hecke) mit einem GPS-Gerät am 25. August 2011 (GD)

Abb. 3: Mauereidechsenmännchen am 3. März 2010. Die Haut ist von der Überwinterung noch erdverschmiert. (GW)

Abb. 4: Gemeinsames Sonnnen je einer männlichen Mauer- und Zauneidechse am 29. März 2010. Bis etwa zur ersten Frühjahrshäutung ruht das Territorialverhalten männlicher Tiere. (GW)

Abb. 5: Sonnenbad mit Körperkontakt je einer männlichen Mauer- und Zauneidechse am 7. April 2011. Der Kopf der letzteren ist noch von der Überwinterung erdverschmiert. (GD)

Abb. 6: Männliche Mauereidechse mit Beute und Zauneidechse vor ihrem gemeinsamen Flucht- und Überwinterungsversteck, einer Erdspalte, die zu einem befahrenen Kleinsäugergangsystem gehört. 7. April 2011 (GW)

Abb. 7: Männliche Zauneidechse vor ihrem Überwinterungsversteck am 7. April 2011, 12:10 Uhr (GD)

Abb. 8: Mauereidechsenpaar vor demselben Überwinterungsversteck am 7. April 2011,12:13 Uhr (GD)

Abb. 9: Risse im Asphalt des landwirtschaftlichen Fahrweges dienen als Fluchtversteck für dieses Mauereidechsenpaar. 25. April 2011 (GD)

Abb. 10: Feldmaus Microtus arvalis in der Öffnung ihres Baus am 11. September 2010 (GD)

Abb. 11: Männliche Zauneidechse in der Öffnung eines Feldmausbaus am 11. September 2010 (GD)

Abb. 12: Mauereidechsenschlüpfling auf dem Asphalt des Fahrweges am 11. August 2010. Der Fahrweg wird als Sonnenplatz genutzt, wenn das Gras der Böschung so hoch gewachsen ist, dass dort keine Vegetationsfreien Inseln mehr als Sonnenplätze zur Verfügung stehen. Die Böschung wird mehrfach im Jahr vom vom Technischen Dezernat der Stadt Nürtingen gemäht. (GD)

Abb. 13: Mauereidechsenschlüpfling vom Fahrweg am 22. Juni 2011. Die noch offene Nabelspalte zeigt an, dass der Schlupf bis zu drei Wochen zurückliegen kann. Ein ungewöhnlich frühes Schlupfdatum, das durch das ungewöhnlich warme und trockene Frühjahr in Süddeutschland in diesem Jahr ermöglicht wurde. (GD)

Abb. 14: Zauneidechsenschlüpfling aus dem Graben am Fahrweg am 25. August 2011 (GD)

Abb. 15: Ventralansicht des Tieres aus [14]. Die Nabelspalte ist fast verschlossen. (GD)

Abb. 16: Zauneidechsenschlüpfling auf Totholz in einer der Obstwiesen am 22. August 2011 (GW)

Abb. 17: Weibliche Mauereidechse auf einem Baumstumpf in einer Hecke. 29. April 2010 (GD)

Abb. 18: Männliche Mauereidechse an der Einfassungsmauer eines Grabendurchlasses am 26. April 2010 (GD)

Abb. 19: Weibliche Mauereidechse an einem Birkenstamm. Hohlräume in der Borke werden als Fluchtverstecke genutzt. 11. August 2010 (GD)

Abb. 20: Männliche Mauereidechse am selben Birkenstamm wie in [19]. 11. August 2010 (GD)

Abb. 21: Männliche Mauereidechse an einer Hütte 7. April 2011 (GW)

Abb. 22: Weibliche Zauneidechse am Fundament einer Hütte am 11. September 2010, 11:42 Uhr (GD)

Abb. 23: Männliche Mauereidechse an derselben Stelle wie in [22], 11. September 2010, 11:59 Uhr (GD)

Abb. 24: Altholz-/Steinanhäufung in einer Wiese mit männlicher Mauereidechse. 22. Juni 2011 (GD)

Abb. 25: Detail zu [24] (GD)

Abb. 26: Weibliche Zauneidechse an derselben Steinanhäufung wie in [24, 25] am 25. August 2011(GD)

Abb. 27: Weibliche Blindschleiche (Anguis f. fragilis) frisst einen Tigerschnegel (Limax maximus) in der Nähe der Lokalität von [24-26]. 25. August 2011 (GD)

Hypothetische Bewertung des syntopen Vorkommens von Mauereidechsen und Zauneidechsen bis zum Abschluss des Forschungsprojektes von AURELIUS HEYM:

Der Fahrweg und die Böschung – der Fokus der Kolonie – bilden ein Wärmereservoir, das das Überleben der Mauereidechsen in einem zauneidechsentypischen Gelände ohne größere Mauern, Felsformationen o.ä. sichert. Vom Fokus ausgehend werden von den Mauereidechsen Steilstrukturen in Wiesen (Bäume, kleine Mauern, Hütten, Holz- und Steinanhäufungen) in Entfernungen bis zu etwa 100 m besiedelt. In deren Umgebung scheint keine Reproduktion mehr möglich zu sein, weil die thermischen Voraussetzungen dafür möglicherweise fehlen.

Literatur:

DEUSCHLE, J., REISS, J. & SCHURR, R. (1994): Reptilien. In: Naturschutzbund Deutschland Kreisverband Esslingen (Hrsg.): Natur im Landkreis Esslingen

MÜNCH, D. (2001): Gefährden allochthone Mauereidechsen autochthone Zaun- und Waldeidechsen-Populationen? - Dortmunder Beiträge zur Landeskunde (naturwissenschaftliche Mitteilungen) 35: 187-190.

SCHULTE, U., DEICHSEL G., HEYM A., HOCHKIRCH A., WERNER G., VEITH M. (2011): Vorstellung des Projekts "Etablierung eingeschleppter Mauereidechsen (Podarcis muralis) zu Lasten heimischer Zauneidechsen?", gefördert durch den Hans-Schiemenz-Fonds. Elaphe, im Druck

Dank:

Wir danken Ulrich Schulte, Werner Mayer und Russell Burke für die Durchsicht des Manuskripts. Ira Richling bestimmte die Beute der Blindschleiche.